Eine Ostarbeiterfamilie der “REIMAHG”, September 2022

Jedes Schicksal der mehr als 12.000 “REIMAHG”-Zwangsarbeiter offenbart sich in der Aufarbeitung vielseitig und emotional. Von ihnen, den Zeitzeugen, gibt es heute kaum noch Überlebende, die ihre Geschichte weitererzählen können.

Das Schicksal von einer der deportierten Familien beginnt in einem kleinen Dorf, nicht weit von Kowel, in Oblast Wolyn gelegen. Hier lebt Familie Boschko, Mutter Anna (1910), Vater Mitodij (1910), die Töchter Stepanida (1932), Nadjeschda (1943) und Maria (1940) sowie Sohn Ivan (1938). Maria war erst vier Jahre, als sie mit ihrer Familie nach Kahla kam.

Mutter Anna und Vater Mitodij, Erfurt 1944

Die heute 82jährige Maria lebt in einem hübschen Einfamilienhaus bei ihrer Tochter und den Enkeln. Ihre Erinnerungen sind noch sehr lebendig, sie erzählt mir, umringt von ihrer Familie, ihre Geschichte.

Mit der Operation „Barbarossa“ griff die Wehrmacht im Juni 1941 die Sowjetunion an. Bis Oktober 1941 hatten sie die gesamte Ukraine besetzt. Schnell formierten sich Partisanenverbände, die ohne Rücksicht von der Wehrmacht bekämpft wurden.  Auch das Dorf, in dem Familie Boschko lebte, half den Partisanen mit Nachschub.  Auf Grund dessen wurden alle Ende April 1944 deportiert. Ihre Familie kam über Erfurt nach Orlamünde, wo sie im Ausländerlager „Stern“ einquartiert wurden.

ehem. Lager “Stern”, Orlamünde
Marias polizeiliche Anmeldung

Auf Grund eines ukrainischen Auskunftsersuchens und nachfolgender Korrespondenz, kam es spontan zu einem Treffen. Es passte ausgezeichnet, da gerade zu dieser Zeit ein Vereinsmitglied seit fünf Monaten in der Ukraine in Sachen humanitäre Hilfe unterwegs war. In Gesprächen mit dem in Lviv ansässigen Verein, war man sich schnell zu einer weiteren, engen Zusammenarbeit einig. Dieser Verein engagiert sich für die Opfer des 2. Weltkrieges sowie deren Repressionen während der kommunistischen Ära. Dies betraf auch ehemalige ukrainische Zwangsarbeiter, die in Kahla waren.

Vater Mitodij und Mutter Anna arbeiteten am Walpersberg, während die älteste Tochter Stepanida auf ihre Geschwister aufpasste.

Der Arbeitseinsatz der Familie am Walpersberg endete bereits am 31. Mai 1944, als sie von Orlamünde nach Suhl überstellt dem dortigen Arbeitsamt zur Verfügung gestellt wurden.

Von diesem werden Vater, Mutter, Sohn Ivan, Tochter Stepanida sowie Maria als Ostarbeiter im „Zieh- und Stanzwerk GmbH“, eine Munitionsfabrik, eingesetzt.

Das Werk gehörte als eigenständiges Unternehmen zum großen Rüstungskonzern „Kopp & Co. m.b.H. Berlin“. Der Suhler Rüstungsbetrieb produzierte von 1937 bis 1945 Infanteriemunition.

Rüstungsbetrieb „Zieh- und Stanzwerk GmbH“, Schleusingen, Baracken der Zwangsarbeiter  
(Luftaufnahme April 1945)

In der Munitionsfabrik arbeiten mehr als 1.400 ausländische Zwangsarbeiter, die wöchentlich 66 Stunden in Tag- bzw. 55 Stunden in der Nachtschicht arbeiteten. Für die Ostarbeiter hatte man eigens 2 Lager in Werksnähe gebaut, in dem sie zusammengepfercht lebten.

Wie in Kahla, sind auch hier die Lebensumstände sehr schlecht.  Maria berichtet, dass sie als Kind ständig Hunger hatte. Ihr Arbeitseinsatz als 4-Jahrige bestand darin, auf eine Holzkiste stehend, die fertige Munition zu sortieren. 

Im Juni 1944 stirbt ihre Schwester Nadjeschda, gerade 11 Monate alt, an Typhus.  Sie wurde auf dem Friedhof in Schleusingen beerdigt, wo ihr Grab noch heute existiert.

Mit Ankunft der Amerikaner am 6. April 1945 kommt das Werk zum Stillstand und die Zwangsarbeiter sind frei. Die amerikanische Armee bietet der Familie die Möglichkeit in die USA zu emigrieren, aber Stepanika weigert sich und kehrt mit ihrer Mutter, Schwester Maria und Bruder Ivan in der Ukraine zurück. Der Weg in die Heimat ist für die Familie beschwerlich und lang.  Auf dem Bahnhof von Lviv (Lemberg), Ukraine, verlieren sie ihr Gepäck und müssen den letzten Teil ihrer Reise zu Fuß zurücklegen. Ihr Vater Mitodij kommt einige Monate später nach. Die Familie hat bei ihrer Rückkehr sehr viel Glück, da sie nicht von einer Filtrationskommission der Sowjetarmee verhört wurden. Wie es vielen anderen Menschen erging, die zurück in ihre Heimat wollten, oftmals jedoch in einem „Gulag“ endeten.

Die Schwestern, Aufnahme 50er Jahre

Maria und Stepanika geht es heute, dem Alter entsprechend, gut.

Stepanika (l) und Maria (r) heute